Perspektivenwechsel in der Recruitingpraxis

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Recruitingpraxis

Die Fachzeitschrift HR Performance bietet künftig der HR Bloggerszene die Gelegenheit, Printkultur mit der digitalen Informationskultur zu vernetzen. Ich wurde eingeladen, einen kurzen Gastbeitrag zu verfassen, der in der aktuellen Ausgabe erschienen ist. Da freut sich die Kommunikationswissenschafterin in mir natürlich! Und da 1000 Zeichen wirklich kurz sind, gibt es hier die Langversion.


Jobsuche betrifft alle Menschen irgendwann. Angefangen vom Jobeinstieg nach erfolgter Ausbildung (oder schon davor für ein Praktikum) bis hin zum Jobverlust nach 20 Jahren Firmenzugehörigkeit (Restrukturierung, Konkurs). Oder auch dazwischen weil zum Beispiel die Perspektive im aktuellen Job fehlt (steht auf der „Hitliste“ der Antworten nach dem Veränderungswunsch an Kandidatinnen immer noch auf Platz 1 – Stichwort Mitarbeiterinnebindungen!).War for talents, Robot Recruiting, Social Media Recruiting, Mobile Recruiting, Candidate Experience – nur einige Schlagwörter und Themen, die uns im Recruiting herausfordern und die dazu führen, dass der Job „Recruiting“ immer komplexer wird.
Berufsbedingt lese bzw. höre ich tagtäglich, welche Empfehlungen an beide Seiten gerichtet werden. Manche bringen mich zum Schmunzeln, manche machen mich sprachlos. Was ich auf beiden Seiten vermisse ist Empathie, Individualität und Authentizität. Und das wichtigste: Verständnis für beide Seiten. Weil die Realität von Personen, die auf Jobsuche sind die eine und die von Recruiterinnen eine andere ist. Das hat viele Ursachen und viele Faktoren, die oftmals nicht zu ändern sind.

 

Ein Perspektivenwechsel kann hilfreich sein, denn „Geradeaus kann man nicht sehr weit kommen“ (aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Ich könnte jetzt auch den Begriff „Hausverstand“ anführen, aber der Kollege ist scheinbar ziemlich beschäftigt ;-).

 

Ein Beispiel aus meiner Recruitingpraxis: eine Kandidatin mit 17 Jahren Berufserfahrung bringt ihren CV mit. Im Gespräch erfahre ich, dass sie weit mehr Erfahrung hat, als im Lebenslauf angeführt ist. Auf meine Nachfrage, warum sie das nicht angeführt hat, erhalte ich die Antwort: „weil im Bewerbungsratgeber steht, der Lebenslauf soll nicht länger als 2 Seiten sein.“ Das macht mich sprachlos. Da bereitet sich jemand gewissenhaft vor, liest sich ein und setzt dann brav um, was empfohlen wird. Leider verringern sich durch diese „Empfehlung“ die Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz. Denn wenn jemand nicht 17 Jahre genau dieselbe Tätigkeit ausgeführt hat dann wird das eng. Und da der CV nun mal hauptsächlich für die Vorselektion verwendet wird (gell Henrik ;-)) sollte man diese Möglichkeit doch bestmöglich nützen und sich nicht limitieren, nur weil irgendwo steht, die Personalistinnen wollen das so. Die wollen doch vor allem passende Kandidatinnen, egal ob der CV 1 oder 3 Seiten hat (oder es keinen gibt). Ach ja für alle, die aktuell auf Jobsuche sind, hier ein aktueller Artikel mit Bewerbungstipps (ich persönlich finde die Kommentare interessanter als den Artikel vor allem zum Thema Motivationsschreiben!).

 

„Hallo da bin ich“

 

Reisen wir doch ein paar Jahre in die Vergangenheit. 20 Jahre genauer gesagt. Mein erster Job nach der Matura. In einem meiner allerersten Blogartikel hab ich es schon erwähnt. Ich hab 3 (!) Bewerbungen weggeschickt, 3 Einladungen zu einem persönlichen Gespräch erhalten und 2 Zusagen. Employer Branding war in Österreich kein Thema. Ich hatte weder Ahnung, was mich im Job, noch was mich in den Unternehmen erwarten könnte. Nach ein paar Wochen im Berufsalltag hat mir meine damalige Kollegin erzählt, wie sie zu ihrem Job gekommen ist und zwar so: „Ich bin nach der Matura mit Kopien von meinem Zeugnis und einigen Lebensläufen in die Stadt gefahren, hab den Ring abgeklappert und gesagt: Grüß Gott, ich suche eine Arbeit, irgendwas im Büro wäre fein. Innerhalb von 4 Tagen hatte ich mehrere Gesprächstermine, eine Woche später hab ich angefangen.“ Ganz ohne Motivationsschreiben, Stellenausschreibung und sogar völlig ohne Internet. Dafür natürlich ein aus heutiger Sicht hoher Aufwand, sowohl zeitlich als auch kostenmäßig, für Bewerberinnen. Und trotzdem war der Recruitingprozess extrem schnell oder? Wer beginnt heute in der Woche nach der Matura mit der Jobsuche und startet ein paar Tage später gleich im Unternehmen? Fachkräftemangel hin oder her, es wird schon die eine oder andere Ausnahme geben aber Alltag ist dies sicherlich nicht.

 

2 Jahre später bin ich das erste Mal mit Recruiting auf Unternehmensseite konfrontiert (auch wenn ich damals die Bedeutung des Wortes sicher noch nicht gekannt habe). Als Assistentin der Geschäftsführung schalte ich ein Printinserat, mache gemeinsam mit einem Geschäftsführer die Vorauswahl aufgrund der Bewerbungsunterlagen und dann darf ich als Assessorin beim Assessment dabei sein. Die Bewerbungen werden übrigens schon per E-Mail verschickt. Der gesamte Prozess dauert wenige Wochen, dann haben wir 2 neue Kolleginnen an Bord.

 

„Die Bewerberinnen müssen es sich verdienen, bei uns zu arbeiten.“

 

Ein paar Jahre später bin ich in der HR Abteilung eines Unternehmens tätig. Personalmarketing ist gerade „in“ und Teil meines Aufgabenbereiches. Wir werden mit Bewerbungen geradezu „überschwemmt“ und eine der Hauptaufgaben im Recruiting ist es, es den Bewerberinnen so schwer wie möglich zu machen. Ja Sie lesen richtig! Hürden einbauen war angesagt! Wer sich „durchkämpft“ (durch ein super mühsames Online-Bewerbungsformular zum Beispiel) und die formalen Anforderungen erfüllt, wird zum Gespräch eingeladen. Den Termin geben wir vor, wer keine Zeit hat, hat leider Pech. Es gibt ja genug andere (manche Unternehmen sollen ja heute noch so denken 😉 Irgendwann stellen wir fest, dass wir zwar immer noch sehr viele Bewerbungen erhalten, aber nicht mehr die für uns „richtigen“. Die Anforderungen an unsere Mitarbeiterinnen haben sich geändert und damit auch unsere Zielgruppe. Jetzt bekomme ich das erste Mal den Auftrag, eine Arbeitgebermarke zu etablieren.

 

Zurück in der Gegenwart stellen wir fest, dass Recruiting mittlerweile eine völlig andere Dimension erreicht hat. Die Schlagwörter, die den Berufsalltag im Recruiting begleiten, habe ich eingangs bereits aufgezählt. Widersprüchliche Anforderungen tauchen auf:

 

  • Menschlichkeit vs. Technik
  • Individualität vs. Standardisierung
  • Mobilität vs. Loyalität
Bewerberinnen wollen als Individuen angesprochen, wahrgenommen und behandelt werden. Aus Unternehmenssicht verursacht Recruiting in erster Linie Kosten. Recruiting muss also schneller, mobiler und vor allem individueller werden, gleichzeitig aber strategisch, ressourcenschonend und standardisiert. Und eines nicht zu vergessen: kostengünstig! Recruiterinnen sollen in der Lage sein, die Top Talente unter den Absolventinnen genauso begeistern zu können wie Berufserfahrene und Silver Ager.

 

  • Die Stellenanzeige ist nicht responsive.
  • Die Karriereseite ist nicht mobil optimiert.
  • Ich kann meine Bewerbung nicht per Mail versenden.
  • Auf der Homepage gibt es nicht mal eine Ansprechpartnerin.
  • Auf der Karriereseite gibt es zwar eine Ansprechpartnerin aber keine Telefonnummer.
  • Es gibt ein standardisiertes Absageschreiben.
  • Es dauert ewig bis eine Reaktion auf meine Bewerbung kommt.
  • Ich habe eine Absage erhalten, obwohl mein Profil genau auf die beschriebene Stelle passt.
Das ist die Realität der Bewerberinnen.

 

  • Ich bin Recruiterin keine IT Expertin (Zitat:„Responsive – was ist das, wofür brauch ich das“?).
  • Ich möchte gerne ein optimales Layout für unsere Stelleninserate / Karriereseite aber Marketing und/oder die IT lässt das nicht zu.
  • Eine Bewerbung per Mail kann ich nicht in unser Bewerbungssystem übernehmen.
  • Ich führe zig Gespräche jeden Tag, ich habe keine Zeit für „Zwischendurch“-Telefonate.
  • Wir haben einfach das Stellenprofil von dem Kollegen, der gekündigt hat verwendet. Das ist veraltet und wir suchen eigentlich nach anderen Qualifikationen. Die Führungskraft hat mir aber noch nicht verraten, welche das sind.
  • Ich betreue über 30 offene Positionen.
  • Ich erhalte 300 Bewerbungen für eine offene Stelle.
  • Ich erhalte keine Bewerbung für eine offene Stelle.
Das ist die Realität der Recruiterinnen.

 

Wie aber kommen wir aus der Nummer wieder raus? Gibt’s Ideen? Ich hätte da so einige Ansätze, offensichtlich ist der Leidensdruck der heimischen Unternehmen einfach noch nicht hoch genug, um auf effizientes, strategisches und optimiertes Recruiting zu setzen. Beginnend bei der Auswahl der Person, die Recruiting verantwortet, dem optimal gestalteten Recruitingprozess und allen involvierten Personen, unterstützenden Tools, abteilungsübergreifende lösungsorientierte Zusammenarbeit und der wertvollsten Ressource im Recruiting überhaupt: Zeit! Zeit wofür? „Wir haben doch keine Zeit“ und der Beitrag ist auch schon recht lang, also halte ich es kurz:


  • Zeit für ein ordentliches Briefing, die offene Stelle betreffend.
  • Zeit für das Design einer zielgruppenorientierten Suchstrategie.
  • Zeit für die Gestaltung eines optimalen und adäquaten Auswahlverfahrens.
  • Zeit für Telefonate, Videointerviews, Skype Interviews oder im besten Fall persönliche Gespräche.
  • Zeit für die Begleitung der neuen Kollegin.

Glauben wir doch Michael Douglas alias Gordon Gekko in „Wall Street“: „Geld ist nicht das Wichtigste, Zeit ist das Wichtigste.“

 

Dann klappt’s auch mit der Employer Brand oder wie sehen Sie das?

 

Herzliche Grüße
Claudia